Āyurveda beschreibt, was wohltuend ist und was schädlich, was glück- und was schmerzbringend, was das Leben fördert und was es behindert, und wie dies alles identifiziert wird. Ayus steht für die Einheit, Ganzheit, die passende (sāma) Verbindung von Körper (Ṥarira), Sinnen (Indriyas), Psychischem (Sattva) und Person (Puruṣa). Aus: Caraka Sūtrasthāna 41/42
Āyurveda, die in Indien entstandene Medizin, wurde ab ca. 500 v. Chr. niedergeschrieben. Parallel dazu hat sich Yoga entwickelt. Beide zielen mit ihrer Theorie und dem methodischen Vorgehen auf das Konkrete: Ein Mensch erlebt die Dynamik seines eigenen Lebens, das in Beziehung zur Dynamik seiner Umwelt steht. Wie kann er alle drei begreifen, gestalten und dadurch Freiheit gewinnen? Ayurveda gibt an, was wie in Balance/Harmonie stehen soll, und wie die Balance reguliert werden kann. Āyurveda bedeutet übersetzt „das Wissen vom Leben“. Āyus ist das Leben, der Lebenszusammenhalt; Veda das Wissen, die Wissenschaft. Im Wort Yoga steckt das Verb yui, verbinden; Yoga bedeutet die Verbindungen verstehen und sinnvoll erstellen. Die Philosophie, die beide anwenden, ist die Saṃkhya-Philosophie, eine einfache und doch wichtige Philosophie. Auf ihrer Grundlage wurden vor etwa 2000 Jahren wichtige Entdeckungen möglich gemacht und ermöglicht: die Null und das Zehner-Zahlensystem und mehr in der Mathematik, Anatomie, Chirurgie und Marmakunde, eine einzigartige Grammatik, die Yogaübungen.
Die Beziehung einer konkreten Person zu sich selbst, und die Zugehörigkeit zur sie umgebenden äußeren Natur, zu den Mitmenschen und der für sie bedeutsamen sozialen Welt ist für Āyurveda die Basis. Die Beziehungsgestaltung ist von entscheidender Bedeutung. Die Qualitäten, die in der Beziehung wahrgenommen werden, sollen harmonisiert, passend gestaltet werden. Als Beispiel: Ist es kalt und eine Person friert, so kann sie durch warme Kleidung den wahrgenommenen Unterschied ausbalancieren.
Die gesunde Person wird “Svastha” (auch Sustha) genannt. Sva heißt eigen, mein Eigenes, meine eigenen Beziehungen, Dinge. Stha heißt sein, sich befinden, praktizieren, stehen, eine „stabilisierte, geregelte, beruhigte, abgeklärte, in Ordnung gebrachte, aufgeräumte Situation“. Svastha bezeichnet den Zustand, in dem die eigenen Beziehungen stabilisiert sind, und daher Wohlbefinden vorhanden ist. Klaus Jork, Professor für Allgemeinmedizin, übersetzt den analogen tibetischen Begriff “Trö-wa-ten” mit “sich auf das verlassen, was einem entspricht” und ergänzt: “Wer von uns weiß, was ihm entspricht? Und dann: “Wo haben wir gelernt, uns darauf zu verlassen? “
Den Zusammenhalt der Person, den Āyus, ermöglichen vier Bereiche. Der „Körper“ (Ṥarira) tendiert zum Abbauen, wenn wir nicht atmen, essen, schlafen und etwa unsere Kraft verwenden, um zu arbeiten. Die Wahrnehmungen und Handlungen (Indriyas), wie Hören und Sprechen, gestalten den Zusammenhalt durch die Qualität, mit der sie ausgeführt werden. Die „Psyche“ (Sattva) ist gekennzeichnet durch registrieren, Ich-bezogenes Handeln und Wahrnehmen, Entscheidungen treffen, Erkenntnisse gewinnen und Handlungen initiieren. Diese mentalen Tätigkeiten sind sehr wichtig für den Zusammenhalt, gleichzeitig besteht immer die Gefahr zu Misskonzepten. Die handlungsfähige „Person“ (Puruṣa) integriert durch ein Interesse an Angenehmem und Nützlichem, sowie einer Abneigung gegenüber Unnützem und Unangenehmem.
Durch aktives sinnvolles Handeln im Alltag, durch Bezugnehmen auf die Signale des eigenen Körpers und auf die konkreten Wahrnehmungen der Umwelt, wird ein balancierter Zustand in der Basisbeziehung zwischen Person und seiner Lebenswelt und innerhalb der körperbezogenen eigenen Innenwelt immer wieder neu geschaffen, aufgebaut und stabilisiert. Orientierung geben die 4 yogas.
Die Beziehungsqualität, um die es dabei geht, heißt samyoga und bedeutet: geeignet, harmonisch, ins Gleichgewicht gebracht, passend, exakt, die geeignete Verbindung zwischen Innenwelt des Menschen und Außenwelt, geeignete Beziehung zwischen innerer Natur, Handeln und äußeren Sinnesobjekten. Ist der geeignete Kontakt, der ausbalancierte Zustand, der dynamische Zusammenhalt nicht vorhanden, so zerfällt die integrierte eigene Situation. Die ungeeigneten Beziehungen sind „zu viel“, „zu wenig“ oder „verkehrt“. Zu viel (atiyoga) kann sein: Zu viel essen, zu viel Hitze, zu harte Worte, zu viel Druck, immer im Stress, immer in Ruhe, zu viel Anregung und Stimulierung, zu viel Reden, zu viel Arbeit, zu viel Freizeit. Das Zuwenig oder Fehlen (hinayoga) ist zum Beispiel: zu wenig Wärme, frieren, zu wenig essen, der Haut fehlt es an Berührung, fehlende Motivation und Anerkennung, nichts oder zu wenig tun an einem geeigneten Zeitpunkt, zu wenig Anregung und Stimulierung, zu wenig interessante Arbeit. Das Verkehrte, Sinnlose, Bedeutungslos Nichthilfreiche, Unproportionale, die gebrochene Beziehung (mithyayoga) bedeutet etwa Essen, wenn man Durst hat, arbeiten, wenn man Ruhe braucht, unterdrücken der „Rufe der Natur“ wie auf die Toilette gehen, unausbalancierte Körperhaltung, nutzlose Diskussionen, Lügen, irrelevante Redebeiträge, falscher Aktionismus, Misskonzeptionen und falsche Vorstellungen.
Drei Funktionssysteme, die ständig arbeiten und untereinander kooperieren, bilden die Grundlage der Gesundheitsbalance in der Person. Die drei gestalten die Normalabläufe, sie sind jedoch leicht durch innere und äußere Einflüsse, durch zu viel, zuwenig und Verkehrtes irritierbar. Wörtlich übersetzt sind sie daher die drei leicht „Irritierbaren“ (drei Doṣas). Die Funktionssysteme sind zuständig für Transport und Bewegung (Vāta ein anderes Wort ist Vāyu), Umwandlung und Verdauung (Pitta), Formgebung und Gewebeentstehung (Kapha).
Das Funktionssystem für Transport und Bewegung (Vāta) hält folgende Aktivitäten in Gang: Wünsche, Enthusiasmus, Atmen, Herzschlag, Kreislauf, Ausscheidung, Denken, Wahrnehmen und Handeln. Wird es irritiert, so kommt es zu gestörtem Herzrhythmus, Bluthochdruck, steifen Muskeln, zu blockiertem und irritierten Denken, zu unklarem Sprechen, Unruhe, Verlust von Stärke oder Wunsch nach Heißem. Vāta, von der Wurzel vā, sich bewegen, gehen, in Gang sein, ist gemäß dem wichtigen klassischen Arzt Suṣruta der König von Gesundheit und Krankheit. Man sagt, die anderen beiden Funktionssysteme hätten „keine Beine“. Nur zusammen mit Vāta können sie sich bewegen. Die Qualitäten von Vāta sind: trocknend, dünnmachend, kühl, leicht, fein, bewegend, klar, locker, und einfach.
Das Funktionssystem, das für Umwandlung und Verdauung verantwortlich ist, wird Pitta genannt. Es verdaut die Nahrung, verarbeitet Eindrücke, reguliert Körpertemperatur, Hunger, Durst, Appetit, Intelligenz, und Glanz. Irritationen führen zu Brennen, Stechen, Jucken, Augenbrennen, Seitenstechen, Magengeschwüren, Stress, Heißhunger, starkem Durst, wie auch zu wenig Schlaf. Die Qualitäten von „Umwandlung“ (Pitta) sind: etwas ölig, heiß (hitzeerzeugend), scharf (stechend, tief eindringend, schnell), flüssig, sauer und scharf/präzise.
Formgebung und Gewebeentstehung wird verursacht von Kapha. Darunter wird das verstanden, was den Menschen zusammenhält, ihm Festigkeit, Stabilität, Ausdauer gibt: der kräftige Brustkorb, die ausdauernde Wirbelsäule, die Stabilität und Befriedigung der Sinne, der “kühle Kopf”, der mit starken Emotionen und Belastungen zurechtkommt. Irritation führt zu Schnupfen, rauen Lungen, Wirbelsäulenproblemen, Unzufriedenheit oder übermäßigem Schlafbedarf.
Die Qualitäten von Kapha sind: schwer, kalt (kälteproduzierend), weich, langsam, süß, stabilisierend, beruhigend, ölig/geschmeidig.
Die Seele/Psyche besteht aus der ayurvedischen Sicht aus drei Qualitäten, die zusammen wie drei Fasern zu einem Faden verwoben sind und die Leitlinie unseres Seelenlebens ausmachen. Vergleichbar einem Musiktrio, das ein Stück spielt, wirken die drei zu einer Dynamik zusammen. Sie kann harmonisch sein; dann erleben wir einen „roten Faden“, oder sie kann durcheinander sein, dann vermissen wir den Faden, sind vom Kurs abgekommen.
Ein Aspekt des Fadens ist, was verlangsamt, dämpft, unterbricht, verschwindet, dunkel ist und daher zur Beruhigung und zum Ein- und Durchschlafen verhilft. Es sind die vertrauten positiven Routinen, dazu gehören die Pausen, die Kraft der Ruhe, das Abschalten können, die Verhaltensregelmäßigkeiten, die schönen Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten des Alltagsleben. Zusammengefasst wird dies alles unter dem Stichwort Tamas. Irritiert und durcheinander, ist dieser Aspekt des Leitfadens gekennzeichnet durch verschlafenen Geist, Verblendung, Dumpfheit, Bewertungen in Unwissenheit, ohne Wahrnehmung und Bewusstsein, in Unklarheit der gesundheitlichen Folgen des Handelns.
Die spontanen guten Ideen, das was dem Leben Farbe gibt, sind unter dem Stichwort Rajas beschrieben. Beispiele dafür sind, was zum Mobilisieren, zum Reorganisieren hilft, einen in produktive Unruhe versetzt, zu mentalem und emotionalem Verdauen verhilft, einen neuen Blick auf die Welt gibt, und daher für Veränderungen und Entscheidungen hilft. Begierde, Arroganz, Gier, Hass, Hin-und-her-gerissen-sein, Überaktivität, Unruhe, Aktionismus, Sucht und Abhängigkeit, Eingehen zu großer Risiken sind Beispiele von irritierten Rajas.
Das Durchdenken, der wache Geist, die präzise Wahrnehmung, die treffende Erkenntnis und das klare Handeln, Präsenz, Wachheit wird unter dem Fachausdruck Sattva (wörtlich: was existiert, was ist) zusammengefasst. Dieser Teil des Leitfadens ermöglicht es, Glück und Unglück ohne emotionale Übererregung und mentales Durcheinander, also ohne Stress zu erleben. Die Qualitäten, die mit Sattva beschrieben sind, ermöglichen Mitgefühl, Weisheit und Ausgeglichenheit. Durcheinandergeraten, steht es für Schlaumeierei, Oberlehrerhaftigkeit, Besserwisserei und Anhänglichkeit, die meint, der Geist könne sich nicht lösen von äußeren oder inneren Objekten.
Die handlungsfähige Person (Puruṣa) initiiert das Interesse am Gesunden, hat ein Vermögen, zu eindeutigen Eindrücken zu gelangen, bevorzugt Angenehmes und hat eine Abneigung gegenüber Schmerz und Leid. In der meditativen, durch Achtsamkeit geprägten Vorstellung von Gesundheit dieser Tradition wird deutlich: „...wenn der Mensch schläft, dann schläft er, wenn er isst, dann isst er, wenn er arbeitet, dann arbeitet er, .....“. Dieser zirkuläre Ablauf von Handeln und Wahrnehmen beschreibt eine gelungene Beziehung der inneren und äußeren Faktoren, die in der Durchführung gesundheitsstabilisierend und –regulierend wirkt.
Stabilisierung und Regulierung wird im Yoga über das vorhandene Niveau hinausgehend angestrebt, sie sollen also verbessert werden. Yoga stellt Mittel und Wege zur Verfügung, die in Ayurveda beschriebenen Beziehungen und Prozesse genau zu beobachten, zu erfassen und handlungsbedeutsame Erkenntnisse zu gewinnen. Das Hauptinteresse besteht darin, genau zu beobachten und herauszufinden, ob Prozesse frisch und frischmachend oder welk und welkmachend sind. Der ganze Mensch wird als Ort verstanden, an dem dieser kritische Prozess abläuft und beobachtbar ist. Westlich gesehen, ist Yoga eine großangelegte Schulung der Körperwahrnehmung und des Körpergefühls. Dabei wird im Zuge der Wahrnehmungsschulung die Arbeitsweise des eigenen Denkens mitbeobachtet, so dass innere Einstellungen passend zu den frischen Prozessen verbessert werden können.
Für die Gesundheit und zur Erfassung von gesundheitsbezogenen Aufgaben ist das sehr nützlich. Wer zum Beispiel die angenehme Wahrnehmung kennt, am Boden auf dem Rücken zu liegen und nichts zu tun, kann eine veränderte innere Haltung zum Thema gesunder Rücken und Rückenschmerzen erarbeiten. Wer gelernt hat, sich für seine “Körperhaltung” zu interessieren und sie in vielen Yogaübungen zu begreifen, kann lernen, gesundheitsfördernde Standpunkte zu beziehen1.
1 Jork, K., in Kemper, P. (Hrsg.) 1994, Die Geheimnisse der Gesundheit,S.59-75
Weitere Literatur in: Bögle/Lüthi Erfolgsfaktor Gesundheit, Bern 2000, woraus auch der Text stammt.